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Queer sein in Deutschland – ein kurzer Streifzug durch die Geschichte

Etwa gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die menschliche Sexualität zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen und wissenschaftlicher Forschung. Es gibt Hinweise darauf, dass es bereits zu dieser Zeit erste schwule Gemeinschaften in Deutschland gab. 1871 wurde, infolge der Vereinigung des Deutschen Reichs, der Paragraf 175 im deutschen Strafgesetzbuch aufgenommen, der sexuelle Beziehungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Er besagte: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Die Mindeststrafe betrug einen Tag, die Höchststrafe 5 Jahre.

Schon vor der Aufnahme dieses Paragrafen ins Strafgesetzbuch gab es Bewegungen, die sich gegen die Kriminalisierung von Homosexualität aussprachen, da sie die These der angeborenen Homosexualität vertraten. So schaffte es der Arzt Magnus Hirschfeld 1897 für eine entsprechende Petition 6000 Unterschriften zu sammeln, die zwar ein Jahr später in den Reichstag eingebracht wurde, jedoch ohne Erfolg blieb.

Etwa 10 Jahre nach dieser Petition wurde eine Ausweitung des § 175 auch auf Frauen geplant. Ein Vorentwurf lautete: „Die Gefahr für das Familienleben und die Jugend ist die gleiche. Daß solche Fälle in der Neuzeit sich mehren, ist glaubwürdig bezeugt. Es liegt daher im Interesse der Sittlichkeit wie der allgemeinen Wohlfahrt, daß die Strafbestimmungen auch auf Frauen ausgedehnt werden.“ Diese Erweiterung des § 175 wurde jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkriegs und den Untergang des Deutschen Kaiserreichs verhindert.


Weimarer Republik

In der Weimarer Republik trat ein Gesetz in Kraft, dass es ermöglichte Freiheitsstrafen von unter drei Monaten in Geldstrafen umzuwandeln. Viele Gerichte machten in der Folge bei Verurteilungen nach § 175 von dieser Möglichkeit Gebrauch. Darüber hinaus bot das weniger restriktive, soziale, politische und kulturelle Klima der Weimarer Republik die Möglichkeit, sich offen für eine Entkriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen Männern auszusprechen. Ermutigt durch die relativ freizügige Atmosphäre bekannten sich viele Homosexuelle offen zu ihrer sexuellen Neigung. Es entstanden Bars, Klubs und Kneipen, die sich speziell an homosexuelle Männer richteten. Vor allem in Großstädten und besonders in Berlin wuchs die Akzeptanz für Homosexualität.

Doch nicht allen gefiel die Freizügigkeit der Weimarer Republik. Für viele Menschen waren die öffentlichen Diskussionen über Sex ein Ausdruck eines beginnenden moralischen Verfalls der Gesellschaft. Hierzu gehörten auch die Nationalsozialisten, die die Weimarer Kultur als dekadent und entartet ansahen. Zwar gab es nur selten öffentliche Aussagen hierzu von Hitler oder anderen NS-Verantwortlichen, aber sie lehnten die Entkriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen Männern ab und setzten sich gegen eine Abschaffung des § 175 ein, bzw. forderten sogar strengere Bestrafungen als bislang vorgesehen.  In entsprechenden Debatten wurden sexuelle Beziehungen zwischen Männern als schändliche Lasterhaftigkeit beschrieben, die das deutsche Volk ruinieren würden.

Die Zahl der nach § 175 Verurteilten, die bis 1914 ungefähr bei sechs- bis siebenhundert pro Jahr lag, sank in der Weimarer Republik zunächst rapide ab. 1919 waren es sogar weniger als 100 Verurteilte. Ab 1921 stieg die Zahl jedoch wieder an und erlebte einen ersten Höhepunkt in den Jahren 1925 / 1926, wo sie auf über 1000 Verurteilte im Jahr anstieg. Zurückzuführen ist dieser sprunghafte Anstieg vermutlich auf den aufsehenerregenden Prozess um den Serienmörder Fritz Haarmann im Jahr 1924. Haarmann wurde wegen Mordes an 24 Jungen und jungen Männern im Alter von 10 bis 22 Jahren am 19.12.1924 zum Tode verurteilt. Ab 1927 lag die Zahl der pro Jahr aufgrund von § 175 Verurteilten bei ungefähr 800 bis 900.


Nationalsozialismus

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 änderte zunächst nicht viel an diesen Zahlen. In der Folge des sogenannten Röhm-Putschs, bei dem der SA-Stabschef Ernst Röhm und weitere SA-Führungskräfte verhaftet und ermordet wurden, kam es ab Dezember 1934 in Berlin zu Razzien auf Homosexuelle durch die Gestapo. Als Rechtfertigung für die Ermordung Röhms wurde zum einen behauptet, dass er einen Putsch geplant habe, aber auch seine Homosexualität wurde als Grund angeführt. Diese war bis dahin ein offenes Geheimnis gewesen und von Hitler geduldet worden. Bei den Razzien wurden hunderte, vermutlich sogar tausende schwule Männer verhaftet und in Konzentrationslager deportiert. Den meisten der so Verhafteten konnten jedoch keine strafbaren Handlungen nachgewiesen werden, da der § 175 zu diesem Zeitpunkt lediglich beischlafähnliche Handlungen unter Strafe stellte.

Im Juni 1935 wurde deswegen schließlich der § 175 verschärft und erweitert. Das Wort „widernatürlich“ wurde gestrichen und damit die Beschränkung auf beischlafähnliche Handlungen aufgehoben. Es war nun bereits strafbar, wenn „objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen.“ Diese Formulierung ermöglichte es, jemanden bereits für das „Anschauen des geliebten Objekts“ oder das „bloße Berühren“ zu bestrafen. Als Begründung für diese Änderung wurde die „sittliche Gesunderhaltung des Volkes“ genannt, da Homosexualität „erfahrungsgemäß“ die „Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung“ habe. Außerdem wurde der neue § 175a geschaffen, der sogenannte qualifizierte Fälle als „schwere Unzucht“ mit Strafen zwischen einem bis 10 Jahren Haft bestrafte. Zu diesen Fällen zählten homosexuelle Vergewaltigung, die Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses, die Verführung von Männern unter 21 Jahren durch Männer über 21 Jahren und die männliche Prostitution. Die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ wurde nach § 175b ausgelagert.

 In der Folge stieg die Zahl der Verurteilten nach § 175 auf über 5000 Erwachsene und knapp 500 Jugendliche im Jahr 1936 und schließlich auf über 8000 Erwachsene in den Jahren 1937 – 1939 an, wobei die Zahl der verurteilten Jugendlichen in den Jahren 1937 und 1938 bei mehr als 900 lag und im Jahr 1939 bei knapp 700.

Zwar wurde der § 175 nie auf homosexuelle Frauen ausgeweitet, doch wurden diese häufig wegen anderer Vergehen verurteilt, wie z.B. „Unzucht mit Abhängigen“, „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ oder Verstoß gegen „Prostitutionsvorschriften“. Während homosexuelle Männer in Konzentrationslagern mit dem „Rosa Winkel“ für Homosexualität gekennzeichnet wurden, wurden homosexuelle Frauen häufig mit dem „Schwarzen Winkel“ gekennzeichnet, der „asozial“ bedeutete.

Interessanterweise zeigen Fotos und Filme, dass unter Angehörigen der Wehrmacht eine queere Praktik, nämlich das „Cross-Dressing“ offenbar offen ausgelebt wurde, während Homosexualität streng bestraft wurde.

Auch nach dem Untergang des NS-Regimes 1945 blieb der § 175 in Kraft. Das bedeutete, dass Männer, die aufgrund dieses Paragrafen verhaftet worden waren, auch nach dem Krieg in Haft blieben. Außerdem wurden einige, nach ihrer Befreiung durch die Alliierten, zurück in ein Gefängnis überstellt, weil sie ihre Freiheitsstrafe noch nicht vollständig verbüßt hatten. Außerdem erhielten sie keine Entschädigung.


DDR

In der DDR wurde ein Jahr nach Gründung entschieden, dass der § 175 in der alten, bis 1935 gültigen Fassung anzuwenden sei, wobei der neu hinzugekommene § 175a beibehalten wurde. 1954 wurde entschieden, dass der § 175a keine beischlafähnlichen Handlungen voraussetzt, sondern jede zur Erregung der Geschlechtslust vorgenommene Handlung beinhaltet, „die das Sittlichkeitsgefühl unserer Werktätigen verletzt“. Zum 1. Februar 1958 wurde die Strafverfolgung für geringfügige Vergehen ausgeschlossen, was faktisch den § 175 außer Kraft setzte. Das Kammergericht (Ost-) Berlin urteilte nämlich: „daß bei allen unter § 175 alter Fassung fallenden Straftaten weitherzig von der Einstellung wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht werden soll.“

1968 gab sich die DDR schließlich ein eigenes Strafgesetzbuch, in dem es keinen Bezug mehr zu § 175 gab. Ein neuer Paragraf sah jedoch eine Freiheitsstrafe von einem bis zu drei Jahren oder eine Verurteilung auf Bewährung für Erwachsene vor, die mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornahmen. Hier wurden zum ersten Mal auch homosexuelle Handlungen von Frauen unter Strafe gestellt, wenn sie mit Mädchen unter 18 Jahren vollzogen wurden.

Aufgrund eines Urteils des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik vom 11. August 1987, in dem die Homosexualität mit der Heterosexualität gleichgestellt wurde, wurde am 14.12.1988 der § 151 ersatzlos gestrichen.


BRD

In der Bundesrepublik bestand schon vor der Gründung die Auffassung, dass die §§ 175 und 175a weiter gelten sollten. 1949 wurden sie dann auch offiziell in das geltende Recht übernommen, „soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht“. Hierbei wurde die Auslegung des Nationalsozialismus übernommen, dass der Tatbestand der Unzucht keine Berührung voraussetzt. Es wurde lediglich abgeleitet, dass das Handeln „stets eine gewisse Stärke und Dauer haben“ müsse.

Aufgrund von Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes, wonach die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ und die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ garantiert wurden, hatten einige Richter große Bedenken bezüglich § 175, was dazu führte, dass diese Richter eher geringe Ersatzgeldstrafen verhängten, während andere besonderen Wert auf die Strafverfolgung von Homosexuellen legten, mit teilweise verheerenden Folgen.

1952 und 1954 wurde von zwei Männern Verfassungsbeschwerde gegen die §§ 175 und 175a eingelegt, weil sie auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes erlassen worden seien und gegen Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes verstoßen würden. Diese Beschwerde wurde am 10.05.1957 vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Unter anderem wurde hier die unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Homosexualität auf biologische Gegebenheiten und das „hemmungslose Sexualbedürfnis“ des homosexuellen Mannes zurückgeführt.

Noch 1962 wurde ein Regierungsentwurf vorgelegt, der die Beibehaltung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen folgendermaßen rechtfertigte: „Vor allem stände auch für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen. […] Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“

Ab 1965 setzte ein Wertewandel in der Gesellschaft ein, der auch mit sinkenden Verurteilungszahlen einherging. Am 25. Juni 1969 wurde § 175 reformiert, indem nur noch die Fälle erhalten blieben, die vorher unter § 175a geregelt worden waren. Die Änderung führte jedoch zu seltsamen Fallkonstellationen. So war schwuler Sex straffrei, wenn beide über 21 oder unter 18 Jahre alt waren. Wenn einer über 21, der andere unter 21 Jahre alt war, machte sich nur der Ältere strafbar, wenn beide zwischen 18 und 21 Jahre alt waren, machten sich beide strafbar. Die Absurdität dieser neuen Regelung wurde von Helmut Ostermeyer einem Bielefelder Richter sehr treffend dargestellt: „Man male sich die Folgen aus: Zwei gleichaltrige Freunde dürfen gleichgeschlechtliche Beziehungen miteinander pflegen, bis sie achtzehn Jahre alt werden, dann müssen sie drei Jahre pausieren, und nach Vollendung des 21. Lebensjahres dürfen sie ihre Beziehungen wieder aufnehmen.“

1973 wurde schließlich eine umfassende Reform des Sexualstrafrechts durchgeführt, wobei im § 175 nur noch der Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurückblieb, wobei das Schutzalter von 21 auf 18 abgesenkt wurde. Sexuelle Kontakte zwischen Frauen wurden nicht erwähnt. Als Kommentar zu § 175 wurde die „ungestörte sexuelle Entwicklung des männlichen Jugendlichen“ als zu schützendes Rechtsgut angegeben. Hintergrund war die sogenannte Prägungs- bzw. Verführungstheorie, nach der sich Homosexualität auch dadurch spontan verbreite, dass Jugendliche von Erwachsenen verführt werden.

1980 forderte die FDP in ihrem Wahlprogramm die Streichung des § 175, „um Homosexuelle rechtlich und gesellschaftlich gleichzustellen“, da die übrigen Strafbestimmungen für den Schutz von Kindern und Abhängigen ausreichen würden. Sie konnte diese Forderung in den Verhandlungen zur Regierungsbildung jedoch nicht durchsetzen.

Auch ein Gesetzentwurf der Grünen, der am 09.03.1989 in den Bundestag eingebracht wurde und ebenfalls die ersatzlose Streichung der §§ 175 forderte wurde abgelehnt.


Entwicklung nach der Wiedervereinigung

Zunächst änderte sich nichts an der unterschiedlichen Behandlung der Homosexualität in Ost und West, da laut Einigungsvertrag zwar das Strafgesetzbuch der BRD für das Beitrittsgebiet in Kraft setzte, aber festgelegt wurde, dass unter anderem der § 175 nicht anzuwenden sei.

Erst 1994 beschloss der Bundestag schließlich die ersatzlose Aufhebung des § 175 StGB.

Ab den 1990er Jahren wuchs die Anerkennung von Lesben und Schwulen und diese konnten nun offen als Paar zusammenleben. Als Folge wurde die Forderung laut, auch heiraten zu dürfen. Zwar gab es auch von Seiten der homosexuellen Interessengemeinschaften Vorbehalte gegen die Ehe, die als reformbedürftig angesehen wurde, doch eine Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit heterosexuellen war das allgemein anerkannte Ziel. Diese Gleichstellung ließ jedoch auf sich warten. Zwar trat am 01.08.2001 er zustimmungsfreie Teil des Lebenspartnerschaftsgesetzes in Kraft, doch hatte dies lediglich die Folge, dass die Lebenspartner zwar dieselben Verpflichtungen wie Ehegatten hatten, aber kaum Rechte. In der Folge gab es immer wieder Klagen von Lebenspartner*innen die eine Gleichstellung mit der Ehe forderten. Aufgrund der Urteile unterschieden sich Lebenspartnerschaft und Ehe ab 2013 praktisch nur noch im Namen.

Im Jahr 2002 beschloss der Bundestag eine Ergänzung zum „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege“, womit die Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen und wegen Fahnenflucht in der Zeit des Nationalsozialismus für nichtig erklärt wurden. Unangetastet blieben jedoch Urteile nach 1945, obwohl sie bis 1969 auf derselben Rechtsgrundlage beruhten. Anträge und Aufforderungen an die Regierung, die eine Aufhebung solcher Urteile und eine Entschädigung der Verurteilten forderten, wurden mehrfach abgelehnt. Erst 2017 beschloss das Bundeskabinett einen solchen Gesetzentwurf, der am 22.06.2017 verabschiedet wurde, wobei nur diejenigen rehabilitiert wurden, deren Sexualpartner zum Zeitpunkt der „Tat“ mindestens 16 Jahre alt gewesen waren. Das „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 08. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen“ trat am 22.07.2017 in Kraft und regelte auch die entsprechenden Ansprüche auf Entschädigung.

Am 01.10.2017 trat außerdem das „Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ in Kraft, womit homosexuelle Paare nicht mehr eine „Lebenspartnerschaft“ eingehen können, sondern „nur noch“ heiraten können, womit auch die letzten Reste einer unterschiedlichen Behandlung aufgehoben wurden.

 
 
 

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